Die Nacht ist mein Freund, Teil 2: „Der Digitale Untergrund (DU) erwacht“

Die düstere Anti-Utopie mit realem Hintergrund, vor der uns der Flaschenpost-Artikel Auf dem Weg in die orwellsche Dystopie warnt, veranlasste mich eine kleine Strecke auf diesem Weg in die Zukunft weiter zu gehen.
Fortsetzung von Teil 1 „Die Nacht ist mein Freund“

 

TocaMe09 - on the way to the venue DIKTATUR DER SICHERHEIT | CC BY-SA 2.0 | Sven Steinmeyer

TocaMe09 – on the way to the venue
DIKTATUR DER SICHERHEIT | CC BY-SA 2.0 | Sven Steinmeyer

Abends bin ich sicher alleine. Die Sensorik weiß, dass ich jetzt schlafe. Daran besteht kein Zweifel, denn alle Parameter stimmen. Meine Augen sind geschlossen, ich atme langsam und gleichmäßig. Gleich wird die Sensorik die Lüftung auslaufen lassen, aber die Wohnung über 16 Grad halten. Unbewegt liege ich unter der Decke, die Arme ausgestreckt und eng am Körper.

In meinem Schlafzimmer ist ein Thermostat der Firma „Rest“ installiert. Solange mein Körper genug Wärme abstrahlt, weiß die Sensorik, dass ich im Raum bin. Und sie weiß, dass ich schlafe. In anderen Wohnungen überwachen CO2– oder Bewegungssensoren unsere Anwesenheit. Die Bewegungssensoren sind die misstrauischten. Du musst Dich langsamer als ihre Wahrnehmungsschwelle bewegen. Für die CO2-Sensoren – jeder Biokörper atmet – genügt es, aus handelsüblichen Kohlensäurepatronen das Gas langsam, kontrolliert ausströmen zu lassen. Meinen Wärmesensor täusche ich mit einer unregistrierten Heizdecke. Um den Stromverbrauch zu erklären habe ich eine Lavalampe, die ich noch nie eingeschaltet habe. So bleibt das Logbuch in den Smart Metern unauffällig.

Lange Zeit war es schwierig, die mit Alarmanlagen geschützten Haustüren zu überwinden. Der Schutz richtete sich seit 2015, dem Jahr der Terrorwende, nicht gegen Eindringlinge von außen, sondern gegen Ausdringlinge von innen, um die staatlich verordneten Ausgangssperren zu überwachen. Seit dem permanenten Ausnahmezustand nach französischen Vorbild erlässt die Geheime Terror Polizei häufig Ausgangssperren, um auch nachts die innere Sicherheit aufrecht zu erhalten. Ein einfacher Trick macht die fremde Alarmanlage an der eigenen Haustür unschädlich: Ich lasse die Haustür offen. Für die Anlage reicht es, dass ein kleiner Streifen Klebeband über den Kontakten die Meldung verhindert, dass die Tür ins Schloss gefallen ist. So weiß die Sensorik, dass die Haustüre noch offen steht und wartet geduldig darauf, die Alarmanlage scharf zu machen.

Die Bewegungsprofile, die über uns alle erstellt werden, nutzen wir für Alibis. Unsere Firmenhandys leben das Leben, das von uns erwartet wird, denn sie senden einen steten Strom von Geopositionen. Für die Überwacher ist es bequem zu glauben, dass ein Handy immer dort sei, wo auch der Besitzer ist. Unsere privaten, illegalen Handys aber durchdringen die Aluminiumfolie nicht, in der wir die kleinen verräterischen Ortungswanzen aufbewahren. Wir nennen sie liebevoll „Aludevs“. Manchmal hilft es auch, sie einfach offen liegen und senden zu lassen. Aber Deine Gewohnheiten verraten Dich besser als Deine Geopositionen. Deswegen tauschen wir häufig unsere SIM-Karten mit Unbekannten. Der Digitale Untergrund vermittelt uns dafür die Partner, während jeder seinen Basistarif weiterzahlt. Nur innerhalb unserer Zelle tauschen wir die neuen Handynummern aus. Mit anderen Zellen kommunizieren wir asynchron mit #Realtags – neusprech für „Graffiti“.

Die Nacht ist mein Freund.

Meine Wohnung verlasse ich ohne einen Alarm auszulösen. Das Firmenhandy schläft für mich. Mein Aludev hole ich aus einem unscheinbaren grauen Kasten an der Straße. Obwohl sie überall stehen, sind die grauen Kästen für die meisten Menschen unsichtbar – nur wer danach sucht oder ganz bewusst darauf achtet, nimmt sie noch wahr. Wir selbst sind graue Schläfer. Für jeden sichtbar unbemerkt.

Meine heutige Aufgabe ist es, Bildprozessoren auszutauschen. Seit Wochen tauschen wir Bildprozessoren in Videokameras aus, die den öffentlichen Raum überwachen. Der Digitale Untergrund hat in die manipulierten Bildprozessoren zusätzliche Funktionen einprogrammiert: Zum einen wird der Videostream nur noch zeitverzögert übertragen. Zum anderen können im Bild sich bewegende Objekte und Menschen aus dem Videostream herausgerechnet werden. Diese Funktion kann in der Überwachungskamera im laufenden Betrieb aktiviert werden. Dafür strahlen wir mit einem Laserpointer in die Kamera und zeichnen ein Symbol in die Luft – einen Lichtkreis.

Im Schatten der Überwachungskegel bewege ich mich durch die Stadt. Die Stadtpläne des Digitalen Untergrunds haben die Sichtbarkeitsbereiche eingezeichnet, doch längst weiß ich, wie ich mein Velo auf den Wegen bewegen muss. Auf Straßen und Plätzen, die lückenlos überwacht werden, setzen wir den Lichtkreis ein, damit die manipulierten Bildprozessoren für mehrere Minuten alle sich bewegenden Objekte ausblenden. Die Bildprozessoren zeigen an deren Stelle nur den Hintergrund an, der ohne Objekt zu sehen war. In den Zentralen, in die die Kameras streamen, sitzen die Überwacher und fühlen sich sicher. Denn sie glauben nur, was sie sehen.

Gefährlich wird es bei Drohnen, die unsichtbar über unseren Städten schweben. Nur das unterdrückt aggressive, schallgedämmte Dröhnen der Motoren verrät ihre Position am Nachthimmel. Dann aber strahlen einer nach dem anderen, mehrere, viele Laserpointer suchend in den Nachthimmel, finden bald das Ziel und blenden mit vereinten Kräften die Zielerfassung. Ein phantastisches Spiel der Laserschwerter! Ohne jede Absprache vom Boden aus, aus Häusern heraus und von Dachgärten hinauf tanzen sie ein Ballett der Eintracht. Es ist erhebend, Teil zu sein, einer von vielen, die ungefragt einander beistehen. Attackiert werden jedoch nur unbenannte Flugkörper – die schwarzen Transportflüge, die nachts über unsere Köpfe hinweg Gefangene in Folterzentren fliegen, lassen wir in ohnmächtiger Wut ziehen.

Ich schaue in die Nacht und träume von Dir.

Fortsetzung in Teil 3 „Der Digitale Untergrund (DU) hilft“

 

Quellen:

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